Street Art à Liège : centre historique und Outremeuse

Die Arbeit durchbricht das Grau in Grau der Betonfassade und taucht das ebenso streng wie imposant wirkende Gebäude in leuchtende Farben. Grelle, bunte Töne und geometrische Formen sind typisch für den Streetart-Künstler Okuda San Miguel; sie gehören zu seiner Signatur. Wie der Titel des Werkes nahelegt, lassen die gen Himmel ragenden Zacken an Kristalle denken. Obwohl sie die Mitte der Fassade zieren, sind sie nicht symmetrisch angeordnet. Das Thema ist für Okuda San Miguel keineswegs neu. Vielmehr zieht es sich wie ein roter Faden durch das Werk des Spaniers, dessen Arbeiten auf mehreren Kontinenten zu sehen sind, und neben Malereien auch Skulpturen umfassen.

Aus der Ferne könnte man sie für Vögel halten. Bei näherem Hinsehen entpuppen sich die dargestellten Wesen jedoch als freundliche Monster, die den Betrachter nicht erschrecken, sondern zum Lächeln bringen sollen. Durch das Spiel mit Wänden und Fenstern erschafft das Kollektiv Hell'O Monsters eine Vielzahl völlig unterschiedlicher Kreaturen, verbunden durch eine einheitliche Farbpalette und Grafik. Das Spiel mit verschiedenen Oberflächen finden wir auch in anderen Arbeiten der drei talentierten Künstler wieder, zum Beispiel in Charleroi, zwischen der Rue du Biez-Moulin und der Rue de Marchienne. Bemerkenswert ist die Vorliebe des Trios für die Darstellung von Vogelköpfen, die den vogelköpfigen Figuren auf einigen Gemälden Hieronymus Boschs nicht unähnlich sind.

In der Streetart bezeichnet ein Jam eine legale Veranstaltung, die mehrere Graffitikünstler zusammenbringt. Anlässlich eines Jams unter der Beteiligung von 22 Graffitikünstlern, hauptsächlich aus der Provinz Lüttich, wurden die Metallplatten auf den Mauern dieser Sporthalle mit bunten Bildern bedeckt. Neben unterschiedlichen Graffiti-Techniken erkennen wir auch eindeutige Anspielungen auf bekannte Dinge, wie die Aliens aus der Welt der Simpsons oder den Ritter in Rüstung von J-Boy. Die Bedeutung des an mehreren Stellen lesbaren Satzes Sept un fait bleibt für Außenstehende dagegen rätselhaft.

Es ist eine geheimnisvolle, faszinierende, mit ihren verschiedenen Blautönen fast dämmrig wirkende Kreation, die Iota hier geschaffen hat. Dieser Eindruck wird durch die gewellte Fassadenverkleidung noch verstärkt. Einige weiße Akzente – Kristalle, deren Funkeln man zu erahnen glaubt – hellen das Fresko auf.. Dahinter erhebt sich eine rätselhafte, fast geisterhafte Figur. Sie wirkt keineswegs bedrohlich, sondern gelassen und in Gedanken versunken. In ihren Kreationen gelingt es Iota, eine realistische, fast fotografische Zeichnung mit diffusen Farben zu vermischen, die das Lesen seiner Kreationen verwirren und dem Ganzen eine einzigartige undpoetische Ästhetik verleihen. Viel mehr als eine einfache Schöpfung ist es eine Welt der Träume, die zum Träumen einlädt, die uns Iota durch ihre Kunst enthüllt. 

Mit seinen klaren und farbenfrohen geometrischen Formen versetzt uns dieses Wandbild in eine Kindheitswelt. Nicht von ungefähr, denn die verschönerte Wand säumt den Spielplatz der psychotherapeutischen Tagesklinik für Kinder La Manivelle. Außerdem ist ein Teil der Komposition unter dem Vordach das Ergebnis einer Zusammenarbeit zwischen dem Künstler und den Kindern. Leider ist dieser Teil von der Straße aus kaum sichtbar. Die Mischung aus Farben und geometrischen Körpern (Kugeln, Würfel, etc.) findet sich in mehreren Werken von 2SHY.

Dieses Wandbild ist mehr als eine Hommage an Hubert Grooteclaes: Es taucht ganz in dessen Werk ein. Während die Komposition mit ihrem leuchtenden Rotton und den übergroßen Köpfen alle Blicke auf sich zieht, wird jeder, der mit dem Werk des Lütticher Fotografen vertraut ist, sogleich an dessen Talent für Porträts und an seine grafische Recherche rund um die Farbe Rot erinnert. Die bekanntesten der vier abgebildeten Porträts zeigen den französischen Sänger Léo Ferré, mit dem Hubert Grooteclaes eng befreundet war, und den weltberühmten Jazzmusiker Miles Davis. Die beiden anderen stellen den in Lüttich populären Frère Alfred und den Schauspieler Nicolas Donato dar.

Dieses Doppelwerk von zwei Graffiti-Künstlern ist eine Hommage an zwei große Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts, die beide in ihrem Land gegen die Rassentrennung kämpften. Reverend Martin Luther King bleibt die Symbolfigur schlechthin des afroamerikanischen Bürgerrechtskampfes in den Vereinigten Staaten. Er wurde 1968 in Memphis ermordet. Nelson Mandela, der wegen seines Kampfes gegen die Rassentrennung mehr als 25 Jahre im Gefängnis verbrachte, wurde nach dem Ende der Apartheid freigelassen und 1994 zum ersten schwarzen Präsidenten Südafrikas gewählt. Er verstarb im Jahr 2013. Ecto und Nova Dead verliehen den Wänden dieser Stromkabine einen künstlerischen Touch und übermalten dabei frühere, unschön gewordene Graffiti. Während der Erste für das Porträt von Martin Luther King verantwortlich zeichnet, signierte der Zweite das Bildnis von Mandela, eine großartige Komposition in Gelb- und Brauntönen.

Bereits 2017, im Rahmen der Ausstellung Comic Revolution, prangte an dieser blinden Wand ein großes Gemälde: eine Hommage an den Cartoonisten Bilal. Im Jahr 2020 wurde diese Arbeit, anlässlich der Ausstellung Warhol im Museum La Boverie, durch das aktuelle Werk ersetzt. Auf einem ideal ausgerichteten Giebel reproduzierten die beiden Partner des Kollektivs Spray Can Arts ein Foto des berühmten Künstlers, der seine nicht minder berühmte Dose Campbell's-Suppe in der Hand hält. Die leuchtenden Farben der vier Bildnisse verweisen auf Warhols Siebdruckporträts, wie das der Schauspielerin Marilyn Monroe oder das des chinesischen Staats- und Parteichefs Mao Tse-Tung.

Diese, dem Stadtviertel Outremeuse und seinen Traditionen gewidmete Komposition, nutzt einen eng begrenzten Raum geschickt aus. Das volkstümliche Outremeuse gilt als die Wiege von Tchantchès, der zu den Lütticher Wahrzeichen zählt und vor allem als Held des lokalen Puppentheaters bekannt ist. Erkennbar an seiner traditionellen Kleidung, vor allem an seinem roten Schal mit weißen Punkten, teilt er sich die Wand mit einer weiteren Marionette: seiner Frau Nanesse. Im rechten Winkel dazu wird eine sehr hohe und sehr schmale Mauer ideal zur Darstellung des so genannten „Bouquets“ von Outremeuse ausgenutzt. Der Ursprung dieser mit Blumenelementen reich verzierten Metallstruktur geht auf das Jahr 1776 zurück. Sie wird jedes Jahr, während des Volksfests zum 15. August, zur Schau gestellt.

Der hässliche Bau, der unter den malerischen Häusern der Rue Roture unangenehm auffällt, wird geschickt als Untergrund für ein Kunstwerk genutzt. 14 Jahre lang zierte ein farbenfrohes Wandgemälde von Olivia de San und Gerard Michel diese Wand. Im Jahr 2018 wurde es durch eine Kreation von Psoman ersetzt. In zurückhaltenden Tönen stellt er eine Vielzahl von Tieren dar und greift damit ein Thema auf, das sich in vielen seiner Werke wiederfindet. Die verwendeten Farbnuancen verleihen dem Bild Struktur und beleben es mit Schatten. Sie sind typisch für die Arbeit dieses Graffitikünstlers.

Der Schriftzug Pitteurs, der in großen Lettern einen Großteil der Wand bedeckt, springt ins Auge. Auch wenn er geheimnisvoll erscheinen mag, weist er nur auf die Schule von Pitteurs hin. Wir sollten unsere Aufmerksamkeit vielmehr der Darstellung von Tchantchès zuwenden. Während Tchantchès in der Rue Jean d’Outremeuse mit kindlich pausbäckigen Zügen dargestellt wird, ähnelt er hier mit seiner Flasche Pékèt (regionaler Wacholderschnaps) einem grölenden Trunkenbold. Auch wenn sie nicht gegensätzlicher sein könnten, zeigen diese beiden Darstellungen zwei der unzähligen Facetten der volkstümlichen Lütticher Figur Tchantchès. Er ist gleichermaßen Held vieler Kindergeschichten und Trinker, der regelmäßig zum Pékèt greift. Seine Besäufnisse lösen übrigens bei seiner Frau Nanesse Wutanfälle aus, die legendär sind! Und dennoch sehen wir sie hier ganz entspannt lächeln. Sie hat den Zustand ihres Gatten wohl noch nicht bemerkt… 

Wie an vielen Orten der Welt ist auch in Lüttich der Marienkult sehr präsent. Besonders stark kommt die volkstümliche Verehrung der Muttergottes im Stadtteil Outremeuse zum Ausdruck. Dieser ist bekannt für seine zahlreichen potales, kleine Holzkapellen, die meist eine Marienstatue beherbergen, und für das Volksfest am 15. August, dessen Ursprung in der Himmelfahrt Mariens verwurzelt ist. Daher ist diese riesige Darstellung der Jungfrau in Outremeuse nicht weiter verwunderlich. Überraschend wirkt dagegen die stilistische Bearbeitung des Themas, die unmittelbar von der südamerikanischen Kultur beeinflusst ist. Der Titel der Kreation lautet also nicht von ungefähr La Milagrosa del barrio de Outremeuse.

Dieses im reinsten Geist der Street Art gehaltene Wandbild hat die Besonderheit, ein vorhandenes Kruzifix zu integrieren. Neben den potales sind in alten Lütticher Straßen, vor allem in Outremeuse, auch zahlreiche Kruzifixe anzutreffen. Dieses Gemälde von Mathieu, genannt Jaba, zeigt dessen Freude an futuristischen Elementen. Die Zukunft sieht er von Metall geprägt – metallen wie der gepanzerte Zug, der zu entgleisen scheint. Seit der Entstehung des Bildes im Jahr 2003 wurde es in einigen Teilen übermalt. Unter den vielen beteiligten Künstlern findet sich auch der Name Nova Dead, dem wir auf diesem Rundgang bereits begegnet sind.

Es klingt verrückt, doch Adèle Renault gelang es tatsächlich, sich mit gigantischen Porträts von Tauben oder Teilen ihres Gefieders einen Namen zu machen. Hier zeigt sie uns mit einem Gemälde, das im Rahmen des Festivals Art public Liège entstand, ihr ganzes Können. Unweigerlich denkt man an einen Rollentausch. Zu Füßen der Taube, die sich nicht einmal herablässt uns anzusehen, sind ausnahmsweise wir diejenigen, die unbedeutend wirken. Durch ihre Technik und ihren Sinn für Realismus gelingt es Adèle Renault, eines der gewöhnlichsten Tiere aus unserem Umfeld groß und wunderschön erscheinen zu lassen. Die prächtigen Farben des Gefieders machen fast Lust, die Taube zu streicheln, während uns die bloße Idee daran im Alltag völlig absurd erscheinen würde.

Im Jahr 2017 umgab die Universität einen Teil ihrer Gebäude am > an der Place du Vingt-Août mit einer Holzpalisade, um Arbeiten an den Fundamenten der Mauern durchführen zu lassen. Man nutzte die Einschränkung als Chance, ein großes Kunstwerk zu schaffen, und dabei sowohl die verschiedenen Fakultäten der Universität als auch die Arbeit gleich mehrerer Graffiti-Künstler vorzustellen. Besonders interessant wirkt in diesem Zusammenhang der Stilmix, der die ganze Bandbreite der Street Art veranschaulicht. Mit einem Arzt, der einem Horrorfilm entstiegen scheint, stellt Ecto die medizinische Fakultät auf eine realistische, ja gruselige Weise dar. J-boy präsentiert die Handelshochschule H.E.C. dagegen anhand von Cartoon-Figuren. Andere Kompositionen entsprechen einer stilisierten Wiedergabe der Lerninhalte, wie z.B. die der Fakultät für Architektur von Thisse. Im Logo der Lütticher Universität ist jede Fakultät mit einer eigenen Farbe vertreten. Dieser Farbcode taucht auch in den Arbeiten der Künstler auf: gelb für Sozialwissenschaften, rot für Medizin, violett für Jura.

Der durch seine Zusammenarbeit mit dem Journal Spirou und als Organisator des Comic-Festivals L'usine à bulles bekannte Cartoonist Fabrizio Borrini vertritt einen ganz besonderen Stil. Seine Arbeit bringt hier Leben in eine von Beton und Stein dominierte, eher triste Umgebung. Die Vorliebe des Zeichners für Kurven, Punkte, leuchtende Farben und eine Fülle von Details ist offensichtlich. Letztere wirkt dabei keineswegs erschlagend, sondern trägt zur Poesie dieser Kreation mit dem Titel Ma Liège rêvée („Mein Traum von Lüttich“) bei. Während die Gebäude und das Wasser tatsächlich an Lüttich erinnern, versinkt der Rest der Stadt völlig in Borrinis magischer Welt. Ursprünglich schmückte dieses Werk auch verschiedene Betonpfeiler, die eine – inzwischen abgerissene – Fußgängerbrücke stützten.

Die schmale Gasse, die früher alles andere als einladend wirkte, wurde 2020 mit einer langen Wandmalerei deutlich verschönert. Die Arbeit entstand im Rahmen des Festivals Art public Liège und erinnert mit ihren Figuren und geometrischen Formen an die ersten Videospiele. Mit seiner Kreation lädt uns Blancbec auf eine Reise ein. Einige Elemente sind Anspielungen auf die großen klassischen Epen, wie das trojanische Pferd, die griechisch inspirierte Meerjungfrau oder die Galeere. Andere, wie das Smartphone oder der Superheld, verweisen auf die heutige Zeit. Bei genauerem Hinsehen stellt sich allerdings heraus, dass der Held die Attribute des Gottes Hermes (geflügelte Schuhe und Helm) trägt. Im Übrigen nähert er sich einem Pfau und einem Wesen, das halb Frau, halb Färse ist. Hierin erkennen wir klare Hinweise auf die Sage der Nymphe Io.

In der engen Rue d'Amay schmückt dieses Werk eine Wand des Veranstaltungscenters Le Forum. Es ist ein legendärer Ort der Lütticher Kulturszene. Unzählige Künstler sind hier bereits aufgetreten. Die Porträtgalerie ist eine Hommage an Sänger wie Charles Aznavour und Zazie oder an Komiker wie Djamel Debbouze, Gad Elmaleh, Virginie Hocq und Anthony Kavanagh. Rund um die Porträts und dahinter fügen sich die grafischen Elemente harmonisch in die vorhandenen Gegebenheiten ein, wie z.B. die im Jugendstil gestalteten und längst schon nicht mehr genutzten Bereiche zum Anschlagen des Programms.

Von weitem wirkt es wie ein Konfettiregen oder wie ein gigantisches Mosaik. Beim Näherkommen verstehen wir, dass dieser Eindruck durch eine unüberschaubare Menge von farbigen Quadraten und Rechtecken entsteht. Popay liebt diese Art der Gestaltung und hat ähnliche Werke in mehreren französischen Städten geschaffen, so in Colmar, Grigny, Nancy oder Rodez. Manchmal ergänzt der Künstler seine Arbeiten durch große, farbige Striche. Dies ist in Lüttich nicht der Fall, so dass der Eindruck eines Mosaiks oder fallender Papierfetzen noch verstärkt wird. Geschickt nutzt Popay den Schornstein, um den Namen La Halte hervorzuheben. Dieser bezieht sich auf ein kleines Theater, das seinerzeit in diesem Gebäude untergebracht war. Es wurde 2019 geschlossen.

Diese Kreation, die einen unattraktiven Betonkubus bedeckt, kennzeichnet sich durch die Verwendung von leuchtenden Farben und Mustern, darunter viele geometrische Formen. Ohne Perspektive und ohne konkrete Elemente, außer den Formen selbst, ist es schwierig, dieser Komposition einen Sinn zu geben. Genau wie die Luftballons (die hier fehlen, an der Sporthalle von Outremeuse aber eine ganze Wand bedecken) sind ein Quadrat oder eine Raute aus zwei weißen und zwei roten Dreiecken typisch für David Bruce. Die Bedeutung dieses wiederkehrenden Motivs ist seiner Aussage nach im maritimen Flaggen-Code zu finden. Das Zusammenspiel der verschiedenen Elemente aus dem Code soll dem Passanten signalisieren, „dass die umliegenden Gewässer sauber sind“. Kurz, David Bruce verspricht uns einen Spaziergang ohne Hindernisse.